Ricardo Fuhrmann | Daniel Jelin
 

„Machst du mir eine Zeichnung von Mose?“

Meine Erlebnisse beim Pessachfest in dem kleinen Schtetl Swyslodz / Polen.

Zeugnis von Abraham Jelin für die Ausstellung der "Ostfriesland-Haggadah" , das eine intime Verbindung zwischen der Exodus-Geschichte und dem Alltag der jüdischen Leute widerspiegelt.


Das Pessachfest findet im Monat Nissan statt, dauert acht Tage und verlangt eine genaue Abfolge von Vorbereitungen und Ritualen, die man strengstens einhalten muss. Sie binden die Familie in ein reges Treiben ein und werden von alten Traditionen und Geboten getragen. Verkündet werden diese Rituale von den Gelehrten.

Ich meinte alles über Moses , unseren Propheten, zu wissen. Moses, der uns aus der Gefangenschaft in Ägypten rettete und uns mit Gottes Hilfe und seiner Weisheit in das Gelobte Land führte. Zumindest wurde mir diese Geschichte während des Sederabends am Pessachfest von klein auf erzählt. Auch wenn mir damals noch nicht bewusst war, wie lange die Geschehnisse vor meiner Geburt lagen, war mir das ganze so nah, dass ich dank der Torastunden und der Erzählungen der Erwachsenen alle Details zu kennen meinte.
An jenem Pessachfest entdeckte ich irritiert, dass nicht nur ich Moses nie begegnet war, sondern auch niemand sonst.
Nachdem ich meinem Großvater bei der Zubereitung des Honigwassers für das Iain kosher le pesaj geholfen hatte, machte ich mich an meine Hausaufgaben.
Ich musste eine Geschichte über den Exodus schreiben und da kam mir eine Idee, die mein Leben ändern sollte: Warum nicht eine Zeichnung dem Text hinzufügen?
Selig, der jüngste Onkel und ein sehr guter Zeichner, war gerade zu Besuch, um mit den anderen Verwandten die Mazza vorzubereiten. "Bestimmt kann er mir helfen!"
"Sicherlich, Abramele, kann ich Dir helfen!", sagte mein Onkel. "Was soll ich dir zeichnen?" "Moses mit den Gesetztafeln", antwortete ich. "Das ist eine sehr gute Idee!", freute sich mein Onkel. Er stellte die Mazza in den Ofen, reinigte sich die Hände vom Mehl und begann zu zeichnen. Nach einigen Strichen sah er auf und fragte sich laut: "Wie sah Moses wohl aus?"

Ich war vollkommen verwirrt. Selig, mein Onkel, der durch die ganze Welt gereist war, sogar bis nach Bialystok (welches 70 km von meiner Heimatstadt Swyslodz entfernt lag) war noch nie dem berühmten Moses begegnet?
"Also gut", sagte ich, "dann frage ich halt den Großvater. Moshe Kantor ist bestimmt mit Moshe Rabeinu (Moses) verwandt."
"Nein, Moses starb vor sehr, sehr langer Zeit", sagte mein Onkel etwas irritiert. Ich ließ jedoch keine Ruhe. "Marschall Pilsudski starb auch vor langer Zeit und von ihm hängt ein Foto in der Eingangshalle der Schule!"
"Nein, Nein!", entgegnete mein Onkel: "Moses starb viel früher, lange bevor die Fotografie erfunden wurde." "Dann, lieber Onkel, zeichne doch Aaron, der ist ja jünger als Moses", schlug ich unwissentlich vor. "Auch der ist schon vor vielen Jahren gestorben", sagte mein Onkel und setzte dabei eine traurige Miene auf: "Warum suchst Du Dir nicht eine Statue, so wie das Denkmal von König Ian Sobieski III., der vor 300 Jahren gestorben ist. "Bei ihm sieht man das Gesicht ganz deutlich." (...)

Schließlich mit Tränen in den Augen, fragte ich meinen Onkel vorwurfsvoll: "Du kennst also niemanden, der mit Moses gesprochen hat?" Mein Onkel legte seine Arme um mich und sprach ganz sanft: "Abramele, es gibt niemanden auf der Welt, der Moses gesehen hat. Das ist alles 3000 Jahre her und geschah an einem sehr entfernten Ort. Es gibt keine Zeugen mehr."
Ich konnte schon bis 3000 zählen und wusste wie lang ein Jahr in Swyslodz sein kann. Es traf mich wie ein Schlag.
Für mich war die Haggadah in gewisser Hinsicht wie eine Geschichte meines Vaters aus dem Ersten Weltkrieg. Er war dabei gewesen. Er hatte alles gesehen und erlebt, es war echt.
Aber jetzt brannte sich ein plötzlicher Zweifel in meine Seele ein. Bis dahin gab es in meinen Leben verschiedene Ereignisse, welche mich bereits nachdenklich machten. Ereignisse, bei denen man mir die Schuld gab, ich aber nicht schuldig war!

-"Das Kind (also ich) hat das Grammophon des Großvaters kaputt gemacht!"
-"Das Kind hat das Geschirrtuch in den Topf geworfen!" (In dem der Großvater gerade den Schawel zubereitete.)
-"Das Kind hat alle Hamantaschen geöffnet, welche die Großmutter für das Purimfest zubereitet hatte!"
-"Der Fuhrmann, der die Kohle brachte, hat heimlich Kirschen vom Bauern Kalman gepflückt!"
Von diese Dingen war ganz Swyslodz überzeugt. Das einzige was ich aber je gemacht hatte, war ab und zu ein paar Kirschen zu stibitzen.
Zweifelsohne beeinflusste mich das Gespräch mit meinem Onkel maßgeblich in meiner Wahrnehmung und lenkte meine Interessen weg von den Offenbarungen, hin zu analytischem Denken und gesundem Zweifel.