Ricardo Fuhrmann | Daniel Jelin
 

Das Heft mit dem schwarzen Deckel

von Daniel Jelin

Vor 82 Jahren, in einem kleinen polnischen Stetl, wenige Tage vor der Pessachfeier, machte ein fünfjähriges Kind, mein Vater, eine schockierende Entdeckung.

Es begriff, dass sein Vater Mose nicht persönlich gekannt hatte. Das Kind hatte immer gehört, wie man von Mose gesprochen hatte, als ob er zum engen Familienkreis gehörte. Es kannte ja die ganze Geschichte in allen Details.

Noch viel verblüffender war die Erkenntnis, dass auch der Großvater Mose nicht persönlich gekannt hatte, nicht einmal Aron, dessen viel jüngeren Bruder.

Natürlich, die Geschichte war ja 3000 Jahre her.

Diese lebendige Art, den Exodus aus Ägypten im Hier und Heute nachzuvollziehen, lässt die Arbeit an Illustrationen für eine Haggadah quasi zur Begleitung von Teilnehmenden eines Pessach-Seder werden. Man durchläuft mit ihnen den langen Prozess Richtung Freiheit.

Das war sicherlich für alle Künstler im Lauf der Jahrhunderte eine faszinierende Herausforderung.

Vor allem auch, weil Pessach, die Feier der Freiheit, auch Feier der Fragen genannt wird. Fragen führen immer zu neuen Ufern; sie legen eine zuvor unbekannte Schicht nach der anderen frei.

Der Rabbiner Michael Shire sagt in seiner wunderbaren Haggadah: „Fragen zu stellen ist ein Zeichen der Freiheit: der Freiheit zu erforschen und zu entdecken.“

Aber ehe man Fragen stellen kann, geht oft eine Phase von Zweifel und Verwirrung voraus. Das passierte uns am Anfang unserer Arbeit, als wir merkten, dass wir trotz vorheriger Zusammenarbeit bei vielen Projekten diesmal ganz entgegengesetzte Visionen hatten. Sie beruhten auf unterschiedlichen religiösen Prägungen.

Unsere Unruhe verstärkte sich durch unsere
Erkenntnis, dass wir uns hier nicht mit freundlicher gegenseitiger Toleranz zufrieden geben konnten. Die abwegigen und absolut falsch erscheinenden Vorstellungen des anderen zwangen jeden von uns, sich mit den eigenen Ideen und Vorurteilen auseinanderzusetzen.

Wir erinnerten uns an den Satz von Nietzsche,
wonach man nicht so fest an die eigenen Gedanken glauben soll. Für uns hieß das langjährige Sichtweisen anzuzweifeln und sich versuchsweise von eigenen Grenzen zu befreien.

Damit begann eine ungewöhnliche Prüfung für unsere bisherigen Arbeitsgewohnheiten. Die Arbeitsweise veränderte sich abrupt von Bild zu Bild; wir folgten den Fragen, die sich aus den Bildern selbst ergaben.

Es gab einen Moment, an dem wir Panik bekamen angesichts der Erkenntnis, dass die Ausstellung sehr heterogen sein würde, was Stilrichtungen und Techniken angeht. Gleichzeitig fühlten wir, dass dieses Wagnis sich lohnt und ließen uns los.

Zu diesem Zeitpunkt wurde uns deutlich, dass die religiöse Erzählung vom Exodus als eine große Metapher verstanden werden kann für den schwierigen Weg jedes einzelnen Menschen in seiner persönlichen Suche nach Freiheit. Ägypten, die zehn Plagen oder Jerusalem wandelten sich von historisch-geografischen Koordinaten zu Repräsentanten unterschiedlicher Ebenen einer spirituellen Sehnsucht.

Zurück zu unserer Arbeitsweise. Als wir grundsätzliche Absprachen getroffen hatten und endlich anfangen wollten zu arbeiten, hielten wir viele Notizen in einem schönen Heft mit schwarzem Deckel fest. Da hinein kamen unsere besten Ideen, viele gute, witzige, tiefgründige und kluge Vorschläge.

Wir notierten Maße, Umrisse, Kalkulationen, Beschreibungen und anderes mehr. Wir hatten das Gefühl, in diesem Heft sei nun die Lösung für alle unsere Aufgaben.

Als wir damit fertig waren, passierte etwas Unerwartetes: Wir haben es nie wieder aufgemacht. Wir merkten deutlich, dass wir zu diesem Zeitpunkt die Arbeit nicht mehr kontrollierten. Das Projekt selbst, die Arbeit und ihre innere Kraft führten uns auf ganz andere Wege.

Wir fanden das wunderbar und ließen uns treiben. Wir wissen nicht einmal mehr, wo das schöne Heft geblieben ist; einer beschuldigt den anderen, es aus Versehen weggeworfen zu haben.

Alte Meinungsverschiedenheiten über die Illustrierung eines Textes kamen wieder hoch. Es gibt so viele Möglichkeiten einen Text bildnerisch darzustellen: ihn wörtlich zu nehmen, ihn zu wiederholen, sich davon zu dissoziieren, ihm einen Gegenpart zu bieten. All das kam ins Spiel. Es war eine Offenbarung für uns zu erkennen, dass in den alten Haggadot all diese Möglichkeiten schon genutzt worden waren. Das wurde sehr wichtig für uns.

Ebenso die Erkenntnis, dass Pessach ein Fest für alle Sinne ist. Durch diese alles durchziehende Sinnlichkeit wird jede zeitliche Distanz aufgehoben und die Seder-Feiernden werden Teil des jüdischen Volkes, das aus Ägypten auszieht. Wir verwandeln uns in die Protagonisten, von denen erzählt wird.

Auf diese Weise erleben wir uns auch wieder als Kinder und haben Jahr für Jahr die Gelegenheit erneut zu wachsen.

Durch diese Lebendigkeit schlägt die Feier einen direkten Bogen zu unserem aktuellen Leben und wir assoziieren politische und soziale Themen der Gegenwart. Deshalb haben wir auch Szenen illustriert, die bisher in den Haggadot nicht dargestellt werden. Wir wollen dadurch zu weiteren Fragen über unsere Gegenwart anregen.