Ricardo Fuhrmann | Daniel Jelin
 

Textauszüge aus dem Ausstellungskatalog

Was ist eine Pessach-Haggadah?

Pessach (sprich Pessakh, hebr. פֶּסַח ), auch Passah, bedeutet: das Vorübergehende, Überschreitung oder das, von dem man verschont bleibt. Im Bibeltext (2. Buch Mose 12,27) heißt es, Gott habe, als er alle Erstgeborenen in Ägypten tötete (zehnte Plage), die Israeliten verschont, indem er ihre Häuser überging. Daher wird dieses Fest ‚Überschreitungsfest’ genannt. Haggadah (Betonung auf der letzten Silbe, hebr. הגדה) ist ganz allgemein eine Erzählung, Überlieferung, Legende, Bericht. Die Pessach-Haggadah ist also die Erzählung der Ereignisse, derer man zum Pessach-Fest gedenkt. Üblicherweise werden bei den Familienfeiern gedruckte Haggadot in Buchform verwendet.

Die Pessach-Haggadah hat im jüdischen Leben einen besonderen Stellenwert. Zu ihr gehören untrennbar die spielerische Fantasie der Schriftauslegung und die Verbindung biblischer Erzählungen mit volkstümlicher Tradition. Illustrierende Darstellungen unterliegen schon immer regionalen Einflüssen und dem ‚Zeitgeist‘. So ist auch diese Ausstellung ein Produkt zeitgenössischer bildender Kunst.

Pessach erinnert an das wichtigste Ereignis der jüdischen Geschichte: den Auszug der Israeliten aus Ägypten und die Befreiung aus der Sklaverei.
Kein anderes Fest ist so besetzt mit Symbolen wie Pessach, das siebentägige Fest der Freiheit. Höhepunkt ist der Seder-Abend am Festbeginn. (Der jüdische Tag beginnt immer am Abend, wenn der alte Tag sein Licht verliert und drei Sterne am Himmel sichtbar sind.) Dieser Seder-Abend wird nach reicher, überlieferter Ordnung mit vielen volkstümlichen Elementen im häuslichen Familienkreis begangen.

Die biblischen Texte aus Exodus (2. Buch Mose), die im Laufe des Abends vorgelesen werden, sind in der Haggadah enthalten, dem Buch für die Feier am Seder-Abend, und werden ergänzt durch Erläuterungen, Kommentare, Gebete, Rätselfragen und populäre Lieder. Die Texte werden auf hebräisch gesprochen, einige auf aramäisch, die Lieder zum Teil in der Landessprache gesungen.

Geschichte der Haggadot

Bis heute gibt es über 4000 katalogisierte Editionen und immer wieder erscheinen neue Ausgaben oder tauchen unbekannte Werke auf. Die Haggadah wurde in die Sprachen all jener Länder übersetzt, in denen Juden in der Diaspora leben. Von allen jüdischen Riten ist Pessach wohl jener, der durch die Jahrhunderte am wenigstens verändert wurde.

Es handelt sich um eine Zusammenstellung von biblischen Texten, Gebeten, Liedern und Psalmen auf Hebräisch und Aramäisch.
Generationen hindurch wurde die Haggadah mündlich tradiert. Erst nach der Zerstörung des Tempels (70 u.Z.) entstand in der rabbinischen Zeit der schriftliche Grundtext (ab 200 u.Z.), der später durch andere Texte ergänzt wurde. Im Laufe der Jahrhunderte kam eine Schicht zur anderen, selbst noch im Mittelalter wurden einige Hymnen und Volkslieder hinzugefügt.

Die älteste bekannte Haggadah stammt aus dem 10. Jahrhundert und war damals ein Teil anderer Gebetbücher. Die ersten selbstständigen Haggadot datieren aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Die schönsten illuminierten Exemplare wurden ab dem Hochmittelalter geschaffen, mit dem Beginn des Buchdrucks gab es auch gedruckte Ausgaben. Aufgrund ihrer Wirkung sind hier vor allem vier Werke zu nennen: Die „Prager Haggadah“ von 1526, die aus Mantua von 1560, die „Venedig-Haggadah“ (1609) und die Amsterdamer (1695). Sie wurden unzählige Male kopiert und haben fast alle folgenden Ausgaben beeinflusst. Solches ‚Plagiat’ störte damals weder Herausgeber noch Kunden.
Es war üblich, nicht historisch korrekt zu illustrieren, sondern das Geschehen im Gewand der eigenen Zeit darzustellen. Eine ägyptische Stadt glich z.B. dem Stadtbild Prags und die biblischen Figuren trugen die Mode des 16. Jahrhunderts.

Im 20. Jahrhundert erlebte die Kunst der Haggadah-Illustrierung eine Renaissance. Große Künstler wie Chagall hatten Interesse an jüdischen Themen. Jetzt wurden feste Konventionen und Klischees über Bord geworfen und wichen neuen, spannenden Bearbeitungen.

Quelle: Yosef Hayim Yerushalmi: Haggadah and history. Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974.

Eine zukünftige „Ostfriesland-Haggadah“ soll sich in die Tradition jener Werke einreihen, die nach ihrem Entstehungsort benannt werden. Die Künstler verstehen die Namensgebung auch als ein Geschenk an ihre Wahlheimat, die für Ricardo Fuhrmann gleichzeitig Heimat seiner Vorfahren ist.


Wie Juden Pessach feiern

Vergleichbar der Vielfalt im Christentum gibt es auch im Judentum eine große Palette feiner Differenzen. Sefardische Juden (Ursprung in Spanien und dem Orient) haben zum Teil andere Traditionen entwickelt als die aschkenasischen Juden aus Mittel- und Osteuropa. Daneben gibt es Orthodoxe, Konservative, Liberale, Messianische u.a.m.

Diese verschiedenen Ausrichtungen haben auch dazu geführt, dass Rituale abgewandelt und Feste unterschiedlich gestaltet wurden. Insoweit dürfen also auch die folgenden Beschreibungen nur als Orientierungshilfe gesehen werden. Sie dienen dazu, einen grundsätzlichen Einblick zu geben.

Heute wird Pessach wieder wie ursprünglich als Familienfest gefeiert. Zwischenzeitlich gab es im 7. Jh. v.u.Z. eine Phase, in der Pessach als Staatsfest beim Tempel angelegt war. Während des Babylonischen Exils (586 - 539 v.u.Z.) wurde Pessach erneut als Familienfest gefeiert und festgelegt. Aus dieser Zeit stammen die heute immer noch gültigen detaillierten Pessach-Abläufe, wie wir sie auch in den Haggadot finden. Seit der Zerstörung des zweiten Tempels (70 u. Z.) endete mit den Opfern auch das Schlachten von Pessach-Tieren. Seither wird Pessach als reines Hausfest gefeiert.

Das Fest dauert sieben Tage, in der Diaspora acht Tage. Während dieser Zeit darf gemäß Exodus (2. Buch Mose) 12,20 nichts Gesäuertes (hebr. Chametz) verzehrt werden noch sich im Haus befinden. Die Beschränkung auf Ungesäuertes soll an die biblische Überlieferung erinnern, nach der die Israeliten so rasch aus Ägypten ausziehen mussten, dass zum Säuern und Gären lassen der Brote als Reiseproviant keine Zeit mehr blieb. Dies wurde in der rabbinischen Tradition auf alle Speisen, die in irgendeiner Weise mit Gesäuertem in Berührung kamen, ausgedehnt. Alle solche Speisen dürfen an Pessach weder zur Zubereitung des Essens noch als Essen oder Getränk (z. B. Bier), ja nicht einmal zur Viehfütterung genutzt werden. Als Säuerndes gilt jede der Getreidearten (Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Dinkel), die für mindestens 18 Minuten mit Wasser in Kontakt kam, sowie jede Speise und jedes Getränk, das aus einer dieser Getreidesorten hergestellt ist oder sie enthält.

Die Vorbereitungen in jedem jüdischen Haushalt beginnen spätestens in der Woche vor dem ersten Feiertag: Ein akribischer Frühjahrsputz ist Ehrensache und vorgeschrieben. In dieser Putzwoche werden sämtliche gesäuerten Nahrungsmittel aufgebraucht, verschenkt oder verkauft und die übrigen am Ende verbrannt. Das Haus wird bis auf den letzten Krümel gereinigt. Glasgeschirr wird drei Tage gewässert, eisernes Gerät (Töpfe, Besteck) wird abgekocht, um es vorschriftsmäßig für Pessach koscher zu machen. In manchen Haushalten gibt es Extra-Geschirr und Besteck nur für Pessach. Bei traditionell lebenden Juden wird zum Abschluss dieser Hausreinigung rituell im Licht einer Kerze und mit einer Feder in der Hand in jedem Winkel der Wohnung nach verbliebenem Chametz gesucht.
Das stattdessen hergestellte ungesäuerte Brot heißt Mazze oder Mazza (pl. Mazzot). Diese Matzen sind dünne, knusprige Fladenbrote, die ohne Hefe nur mit Mehl und Wasser bereitet sind. (Die Buchstaben des Wortes Mazza auf hebräisch bedeuten: Mikol Zara Hazileinu = bewahre uns vor Kummer.)

Ehemalige Auricher Mitbürger erinnerten sich noch lange daran, dass die Auricher Gemeinde weitgehend von einem Kirchdorfer Bäcker (zuletzt wahrscheinlich Bäckermeister Tamme Flessner) mit Matzen versorgt wurde, weshalb Kirchdorf in der jüdischen Gemeinde Aurichs umgangssprachlich als „Matzendörp“(= Matzendorf) bekannt war.


Die Seder-Feier

Der Seder (hebr. Ordnung) ist der Abend, mit dem der erste Festtag beginnt. Die Familie versammelt sich, man lädt für den Sederabend gern andere Familienangehörige oder auch Freunde ein, insbesondere solche, die sonst womöglich allein wären. Die Kinder sind den ganzen Abend aktiv in das Geschehen einbezogen. Sie stellen vier Fragen zur Bedeutung des Festes und zum Sinn der Rituale. Für jeden liegt eine gedruckte Haggadah schel Pessach, also Pessach-Haggadah bereit. Dieses Buch regelt mit Texten und Anweisungen den Ablauf des gesamten Abends.

Es ist eine feste Zeremonie in fünfzehn Schritten, die gemeinsam vollzogen wird. Auf dem Sederteller (Ke‘ara) mit seinen sechs Vertiefungen oder gekennzeichneten Feldern sind die symbolischen Speisen angeordnet. Ohne ihn ist eine Sederfeier nicht denkbar.
Auf dem Tisch stehen

  • ungesäuertes Brot (drei Mazzot, deutsch: Matzen) als Symbol der Eile, in der die Juden aus Ägypten geflohen sind, so dass sie nicht einmal den Brotteig säuern konnten. Sie sind jeweils in eine Serviette gehüllt oder liegen in einer dreifächerigen Tasche. Mazza wird auch ‚Brot der Armut’( oder Demut) genannt.

  • Salzwasser als Symbol des Weinens über die Leiden während der Sklaverei.

  • Ein Weinbecher oder -glas, bestimmt für den Propheten Elias, dessen Erscheinen angekündigt ist und erwartet wird.


In den Vertiefungen des Ke’ara befinden sich

  • Maror – ein Bitterkraut, meist Meerrettich, eventuell Chicoree o. a. als Zeichen der Bitterkeit der Knechtschaft in Ägypten.
  • Seroa – eine angebratene Lammkeule mit wenig Fleisch, die an die biblische Vorschrift der Opferung eines Pessachlamms im Jerusalemer Tempel erinnert.
  • Charosset – eine Mischung aus Apfel- bzw. auch Feigenstückchen und Datteln, Nüssen oder Mandeln, mit etwas Rotwein zusammengeknetet, mit Zimt oder Ingwer bestreut, als Symbol für den Lehm, aus dem die Israeliten in den Zeiten der Knechtschaft Ziegel herstellen mussten.
  • Chaseret – ein zweites Bitterkraut, kann aus demselben wie im ersten Feld oder aus einer anderen Gemüse- oder Kräuterart sein.
  • Karpas – Sellerie, Radieschen, Petersilie
    oder Kartoffeln als Frucht der Erde, symbolisiert die ‚zermürbende Arbeit‘ in Ägypten. Diese Erdfrucht wird während des Mahls in das Salzwasser getaucht und gegessen.
  • Beitzah – ein gekochtes Ei, dessen Bedeutung unterschiedlich ausgelegt wird: zum Zeichen der Gebrechlichkeit des Menschen und der Trauer oder auch als Symbol der Fruchtbarkeit und des Beginns einer neuen Phase des Lebens wie z.B. der Frühling. (Deshalb heißt das Pessachfest auch Fest des Frühlings = Chag Ha‘aviv).
     

Die Zeremonie beginnt mit dem Anzünden der beiden Kerzen.

Im 1. Schritt Kadesch wird das erste von vier Gläsern Wein mit einem Segensspruch getrunken und die Anwesenden lehnen sich symbolisch an, als Zeichen der Freiheit. Denn in antiken Zeiten durften sich nur die Freien anlehnen, während die Sklaven stehen mussten.

Im 2. Schritt Urchaz folgt ein erstes Waschen der Hände ohne Segensspruch.

Im 3. Schritt Karpas werden vom Sederteller die Stückchen rohen Gemüses genommen, mit einem Segensspruch in Salzwasser eingetaucht zum Andenken an das Leiden während der Sklaverei und verzehrt.

Im 4. Schritt Jachaz wird die mittlere der drei Matzen gebrochen. Die größere Hälfte wird eingewickelt und versteckt, es ist das Afikoman. Dies wird versteckt und im Laufe des Abends gesucht.
In der jüdischen Gemeinde in Aurich hat sich wohl eine Besonderheit entwickelt, von der uns ehemalige Auricher und deren Nachkommen erzählen: Nicht der Leiter des Seder versteckt das Afikoman, sondern die Kinder stibitzen ein Stück Matze und lassen es ihn suchen, manchmal verbunden mit „heiß“-„kalt“ Hinweisen. Ohne dieses Afikoman kann der Abend nicht beendet werden. Etliche der Auricher Familien haben diese Besonderheit in ihren Familien in Israel, Argentinien oder anderswo bis heute tradiert.

Im Zentrum der Sederfeier steht der 5. Schritt Maggid. Zuerst stellen die Kinder die vier rituellen Fragen, üblicherweise beginnt das jüngste: Warum ist diese Nacht anders als alle anderen? Warum dürfen wir sonst jedes Brot essen, heute nur ungesäuertes? Warum können wir sonst allerlei Kräuter essen, heute nur bittere? Warum müssen wir sonst gar nicht eintauchen, heute aber zweimal? Der Leiter der Zeremonie oder der Älteste der Versammelten antwortet. Zugrunde liegen diesem Ritual die Anweisungen in Deuteronomium (5. Buch Mose) 6,20ff.

Dann wird die Erzählung vom Exodus aus Ägypten und von der bitteren Sklaverei des jüdischen Volkes vorgelesen. Dafür werden biblische Texte wie solche rabbinischer Tradition herangezogen.

Zur Erinnerung an die zehn Plagen, die am Ende den Pharao bewegten, die Israeliten in die Freiheit zu entlassen, spritzt man schließlich zehnmal einen Tropfen Wein aus dem Glas. Das Glas der Freude darf nicht ganz voll sein, weil die Freude mit dem Leid der Ägypter errungen wurde.

Dann wird das zweite Glas Wein getrunken.

Im 6. Schritt Rachza werden wieder die Hände rituell gewaschen, verbunden mit einem Segen.

Im 7. und 8. Schritt Mozzi Mazza werden zum Essen der Mazza die drei Matzen angehoben, die bereits angebrochene zwischen den anderen. Darüber wird der über normalem Brot übliche Segen (Mozzi) gesprochen.

Danach lässt man die untere Mazza wieder auf den Teller fallen, während über der oberen und der zerbrochenen der besondere „Al achilat Mazza“ - Segen gesprochen wird. Zuletzt isst man, wieder angelehnt, ein Stück von beiden.

Im 9. Schritt Maror taucht man mit einem Segensspruch etwas von den Bitterkräutern in das Charosset.

Im 10. Schritt Korech folgt man der Tradition von Hillel, einem talmudischen Rabbi, indem man ein Mazza-Sandwich mit Bitterkräutern isst.

Mit dem 11. Schritt Shulchan Orech wird die Haggadah zur Seite gelegt und es folgt ein festliches Mahl.

Anschließend beim 12. Schritt Tzafun wird das versteckte Afikoman gesucht und zum Tisch zurückgebracht. Ein Stück davon wird als Nachspeise gegessen.

Manche deutsche Juden verwahren das restliche Stück, das man nicht gegessen hat, auch bis zum Pessach des nächsten Jahres und verbrennen es zusammen mit dem Chametz.

Der 13. Schritt Barech ist der Danksegen nach dem Mahl. Es wird ein drittes Glas Wein getrunken und alle lehnen sich zurück. Auch der Becher für den Propheten Elias wird gefüllt. Dann wird die Tür geöffnet, um ihn einzuladen, in den Raum einzutreten und mit an den Tisch zu kommen, denn er ist der Vorbote des Messias.

Im 14. Schritt Hallel werden Loblieder gesungen. Dann wird mit einem Segensspruch das vierte Glas Wein getrunken.

Das Fest endet mit dem 15. Schritt Nirza durch Liedersingen und dem ausgesprochenen Wunsch: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“